21. Mai 2004


"Christof Stählin"

In den Schluchten des Alltags

- Gedankentheater -

Der Verlauf der Regennässe auf einer Betonwand, Lippenstiftspuren an einem Sektglasrand, der verblasste Streifen eines roten Löschblattes, das oben aus einem Buch herausschaut: Solchen Unscheinbarkeiten, die jeder kennt, aber selten von außen gezeigt bekommt, ist das neue Programm des Hechinger Schriftstellers und Liedermachers Christof Stählin gewidmet. Das Thema dieses Gedankentheaters ist die Aufmerksamkeit auf das Nächstliegende, die den Betrachter befähigen könnte, über jeden Augenblick einen Roman zu schreiben.

Die Bühnenfigur, die sich dafür Zeit nimmt, ist ein einsamer Mann, der soeben in eine kleine Dachwohnung umgezogen ist. Während draußen alles immer schneller wird, entdeckt er die Milchstraße in seiner Kaffeetasse und schließt daraus, dass im Weltall auch nichts anderes los ist als sonst überall auch.

"Ich hab nicht vor, jemand eins draufzugeben, ich weiß doch gar nicht, ob der das auch will!", heißt es in einem der philosophischen Lieder, von denen die Szenen und Monologe unterbrochen werden. Das bedeutet für Christof Stählin und dieses Programm den Abschied von Satire, Zynismus und Sarkasmus, wie sie zum Kabarett gehören. Dessen Spitzen und Schärfen sind durch lauter bunte Bilder aus dem geheimen Arsenal des Gegenwartsbewußtseins von jedermann ersetzt, wobei allerdings hinter einer Nichtigkeit das Universum und im Trivialen das Erhabene zum Vorschein kommen kann. Das ist zum Lachen, aber "Ernst muß sein!" So ist der Humor.


PRESSEKRITIK
AUS DEM TAGESANZEIGER ZÜRICH

vom 10. April 2002
von Peter Schwar

MIKROGRAMME

Im Hechtplatz Theater bewegt sich Christof Stählin "In den Schluchten des Alltags". Meisterhaft. Was für ein Dichter. Robert Walser hätte seine helle Freude an ihm gehabt. In seinem neuen Programm nimmt uns Christof Stählin mit auf einen Spaziergang, macht uns zu staunenden Alicen, denen der aus einem alten Buch herausragende Teil eines himbeerrosa Fliessblatts oder ein trocken gebliebener Fleck auf einem verregneten Parkplatz zum Wunderland wird.

siehe auch
Christof Staehlin

In Pyjama, Hausmatel und Panoffeln, ab und zu an einer Teetasse nippend, lädt uns Stählin in seine neu bezogene kleine Dachwohnung, in die er einzig die vergangene Liebe zu einer schönen jungen Frau und einen Anzug mitgebracht hat. Und wie beiläufig zieht er uns in den Strudel seiner, unserer alltäglichen Schluchten. Es geht los, lautet der erste Satz. Aber was ist ES? Folgt eine Hommage an es, eine wunderbare Sequenz über die Doppel- und Trippelbedeutung der Worte, ein an- und abschwellendes Spiel mit Klängen und Anklängen, ein andauerndes Unterlaufen der Spracherwartungen.

Der 1942 geborene Stählin ist ein Meister des dichterischen Mikroskops. Ob er von einer Lautung ausgeht oder von einem Gegenstand: Die Sprache wird zum Bild und das Bild zur Sprache. Ob sich der Duden der Rechtschreibung verschrieben hat oder die kleine eiserne Kriegerfigur, die unsere Fensterlä-den an die Mauer klammert, einnickt, wenn sie ausrastet - immer entstehen literarische Miniaturen, Wort-Preziosen.

Und wenn er nicht gerade einen Drudel mimt, trägt uns Stählin zu den leisen Klängen einer spanischen Renaissance-Vihuela mit einem Lied über das Warum oder über die Zypresse davon. Dann blendet die Drachenschnurparabel das Programm wie einen alten Schlager ins Dunkel aus.

ZITATE AUS DEN "SCHLUCHTEN"


Es kann morgen wieder regnen. Ich könnte das nicht.

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Aber sie leistet keine Gesellschaft.

Ich hatte aus Versehen einen Brief um eine Mark neunzig unterfrankiert.

Niemand hat es bemerkt, aber ich habe dann die mir zustehende Parkzeit in der Innenstadt um zwanzig Minuten unterschritten. Es muss im Ganzen stimmen.

Halten Sie mich nicht leichtfertig für erwachsen. Ich bin es nicht mehr.

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