Titi Winterstein ist tot

Liebe Freunde Titi Wintersteins,
liebe Freunde der Musik deutscher Sinti,

in den später Abendstunden des 13. Juni 2008 starb der Geiger Titi Winterstein (geb. 25.10.1956) im Alter von 51 Jahren an den Folgen schwerer Krankheit im Klinikum Offenburg. Die Beisetzung findet am Dienstag, 17. Juni 2008 auf dem Friedhof der Gemeinde Legelshurst statt. Die Trauerfeier beginnt um 14:00 Uhr.

Titi Winterstein hinterläßt Frau und zwei Kinder, viele Angehörige seiner großen Familie und seines Volkes, die gemeinsam um ihn trauern. - Für alle Musikfreunde ist mit seinem Ableben eine schmerzliche Lücke entstanden. Denn er hat - in über 35 Jahren Bühnenpräsenz - das Genre der Musik deutscher Sinti mit geprägt und ist zu einem anerkannten Botschafter der Musik seines Volkes geworden.


Titi ist der Sproß einer Sinti-Familie, der schwerstes Leid während der Nazi-Zeit widerfahren ist.- Vater Tokeli überlebte zusammen mit seinem Bruder die Konzentrationslager Ausschwitz und Buchenwald - als einzige einer zwölfköpfigen Familie. Über fünfzig nächste Angehörige - Eltern, Geschwister, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen - wurden Opfer der rassistischen Gewaltherrschaft. Bei der Befreiung ist Tokeli 18 Jahre alt.

Vor diesem Hintergrund wächst der junge Titi auf dem Gelände des Mainzer Fort Hartenberg heran. - Als der Vater ihm die ersten Griffe auf der Geige zeigt, ist Titi gerade acht Jahre alt. Schon im Oktober 1965 - kurz vor seinem neunten Geburtstag - steht Titi beim Abschlußfest der Zigeunerwallfahrt Illingen (Saarland) erstmals auf der Bühne. Vier Jahre später (1969) verblüfft er als 12-jähriger an gleicher Stelle durch gekonntes Nachspielen der Swingtitel auf Schnuckenack Reinhardts wenige Monate vorher erschienenen ersten LP (Musik deutscher Zigeuner 1) und stiehlt dem von ihm verehrten Meister damit ungewollt die Show.

Als ihn 1972 der Berliner Gitarrist Häns'che Weiss in sein neu gegründetes Quintett holt, ist Titi 15 Jahre alt. Mit seinem frischen, ungestümen Spiel auf der Violine begeistert er das Publikum, von der Presse wird er als "Wunderkind" gefeiert. Häns'che Weiss und Titi Winterstein sind als herausragende Solisten ein ideales Gespann, auf's beste getragen von den enorm swingenden Rhythmus-Gitarristen Holzmanno und Ziroli Winterstein sowie Hojok Merstein, der die soliden Grundlinien auf dem Kontrabaß zeichnet. - Hojok, dem Senior der Band, kommt darüber hinaus die nicht immer einfache Aufgabe zu, die zu jedem Unfug aufgelegten, jungen Sinti-Musiker im Zaum zu halten. Autorität und Gelassenheit ausstrahlend, mit väterlicher Geduld und gelegentlich auch Strenge, ist Hojok ruhender Pol, wichtige Leitfigur und Korrektiv innerhalb des jungen Quintetts. - Fünf Langspielplatten in der Zeit von 1973 bis 1978 dokumentieren die intensive und erfolgreiche Arbeit dieser Formation. Einzige Besetzungsänderung: 1976 kommt der brilliante Lulu Reinhardt (Gitarre) als weiterer Solist für den sich zurückziehenden Holzmanno hinzu.

Die fünf Jahre mit dem Häns'che Weiss Quintett waren für das große Geigentalent, das keine Noten lesen konnte, zum Bersten angefüllt mit Erlebnissen und ausgedehnten Konzerttourneen. Eine große Zahl von Festival-Verpflichtungen führten die Gruppe nicht nur in alle Winkel der BRD, sondern in fast alle Länder Westeuropas. Einen ganz besonderen Stellenwert für Titi hatten die gemeinsamen Konzerte (Düsseldorf, Berlin, München, Stuttgart, 1977). mit dem berühmten Geiger Stephane Grappelli, dem Weggefährten des genialen Django Reinhardt zu Zeiten des Hot Club de France. Stephane Grappelli, begleitet vom Diz Disley Trio und das Hän'sche Weiss Quintett bestreiten je einen Teil des Konzertes, um sich als Höhepunkt des Abends zu einer heißen Session zusammen zu tun, bei der das musikalische Frage-Antwort-Spiel der beiden Geigenvirtuosen vom Publikum begeistert gefeiert wird.

Für ihre fünfte LP "Fünf Jahre Musik deutscher Zigeuner" erhalten Häns'che, Titi, Lulu, Ziroli und Hojok den Deutschen Schallplattenpreis 1978. Die Jury begründet ihre Entscheidung damit, daß diese unter den eingereichten traditionellen Platten diejenige sei, die "Tradition am wenigsten als Bewahrung, Reproduktion versteht, sondern die Tradition 'lebt', als vitaler Ausdruck ungebrochener Tradition von Zigeunermusik."

Kurz nach der Verleihung steigt Häns'che Weiss - für alle Beteiligten überraschend - aus. Die verbleibenden vier Musiker beschließen, den eingeschlagenen Weg konsequent fortzusetzen. So ist der Auftritt beim "Festival der Jugend" am 14.05.1978 vor 30 000 Besuchern in der Dortmunder Westfalenhalle gleichzeitig die Geburtsstunde der Band des erst 21-jährigen Titi. Der Bandname: Titi Winterstein Quintett, wenig später komplettiert durch den Pianisten Silvano Lagrene.

Noch im gleichen Jahr dreht Peter Gehrig den 45-Minuten-Dokumentarfilm "Saitenstraßen", ein Portrait der Musiker und ihrer Familien auf der Sommerreise (SDR, 1978). In Anlehnung an den Filmtitel erscheint wenig später die erste LP "Saitenstraßen" (1978), unter Mitwirkung des schwarzen Blues-Harp-Spielers Lee Reed. Im Auftrag des ZDF dreht Peter Gehrig auch den Streifen über das "Musikfest der Zigeuner" (Darmstadt, 1979), der u.a. Titi Winterstein und Lee Reed in einer Sequenz festhält.

Bimbam Merstein, die Schwester Hojoks, singt den Titelsong "I Raisa" der zweiten LP des Quintetts. Hojok ist bei dieser Produktion aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr dabei. Den Baß spielt der junge Musikstudent Thomas Fichter. Als "special guest" steuert der Akkordeonist Enzo Biordi den wunderschönen Valse Musette "Indifférence" bei. Von April bis November 1980 wirken die Musiker um Titi Winterstein bei "Die Vögel" von Aristophanes in einer Inszenierung von Hans-Günther Heyme am Schauspielhaus des Staatstheaters Stuttgart mit.

Bis zu den Aufnahmen für die dritte LP "Djinee Tu Kowa Ziro" (1985) vergehen fast fünf Jahre, die angefüllt sind mit Konzerten und Festivalauftritten im In- und Auland, aber auch dem Engagement für die Sache der Sinti und Roma, der Beteiligung an der "Grünen Raupe" im Bundestagswahlkampf und der von der Friedensbewegung initiierten Menschenkette Stuttgart-Ulm. Der junge, großartige Akkordeonspieler Klaus Bruder gehört jetzt zum Quintett, ebenso wie Geisela Reinhardt (Solo-Gitarre), der jüngste Bruder Lulus. Und im Repertoire der Gruppe tauchen vermehrt Eigenkompositionen der Musiker auf.

Als Titi davon hört, daß mit Vanessa Merstein und Sorba Kwiatkowski Musiker aus Polen aufgetaucht sind, die den Liedschatz der osteuropäischen Roma sozusagen im Gepäck haben, bezieht er die beiden in seine vierte Plattenproduktion ein. Titel: "Live mit Vanessa & Sorba" (1987). Gemeinsame Live-Auftritte folgen, u.a. beim WDR-Folkfestival (Bonn,1988).

"Armer Nanosh" heißt der kontrovers diskutierte NDR-Tatort-Krimi, der im Juli 1989 unter Mitwirkung des Titi Winterstein Quintetts im ARD-Programm über die bundesdeutschen Bildschirme flimmert. - Wenige Monate später fliegen Titi und Mannen zum "World Fest '89" nach Atlanta, Georgia, in die USA. Nach dieser Reise betritt Titi nie wieder ein Flugzeug - er leidet unter Flugangst.

Einer der Höhepunkte in der Laufbahn Titi Wintersteins ist die Begegnung mit Yehudi Menuhin, der den Sinto nach Brüssel zur Mitwirkung bei der Gala "All The World's Violins" (1993) einlädt. Ein Mitschnitt dieser Veranstaltung - an der u.a. Yehudi Menuhin, Stephane Grapelli, Dr. L.Subramaniam und das Titi Winterstein Quintett mitwirken - erscheint als CD. Kurz darauf regt Yehudi Menuhin an, daß Titi in einen vom ZDF für den deutsch-französischen Kulturkanal ARTE produzierten Fernsehbeitrag zur Kultur der Juden und Zigeuner (1993) mit einbezogen wird.

In den Jahren danach folgen Titi Winterstein und seine Cousins Ziroli und Holzmanno Winterstein sowie der Bassist Banscheli Lehmenn, Einladungen zu vielen renommierten Festivals in Frankreich, Italien, der Schweiz, Österreich, Ungarn und Tschechien. Sie spielen auf Schloss Bellvue, der Residenz des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau. Günter Grass, der sich für die Roma und Sinti einsetzt, lädt Titi Winterstein mehrfach ein, zuletzt im Oktober 2007 zu einem Festakt in Göttingen aus Anlass des 80. Geburtstages des Nobelpreisträgers.

Trotz aller Erfolge ist Titi Winterstein stets der traditionellen Lebensweise seiner Familie treu geblieben. Sobald die Sonne im Frühjahr lockte, gab's kein Halten mehr. Die Wohnwagen wurde angespannt und es ging mit verwandten und befreundeten Sinti-Familien auf die Reise, meist bis in den Herbst hinein. Seine Familie, die Musik und die Reise waren ihm Lebensinhalt, den er zu keiner Zeit missen wollte. Zudem war er ein gläubiger Mensch.

Alle, die ihm nahe waren, trauern um Titi Winterstein - als Mensch und als wunderbaren Musiker, der seine Zuhörer mit seinem Geigenspiel verzaubern konnte und so vielen Menschen Freude bereitet hat. Ein großartiger Künstler ist von uns gegangen. Wir werden ihn in unseren Herzen bewahren.

Siegfried Maeker
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